Ein Widerspruch oder notwendig?

„Seit meine Kinder auf der Welt sind, begleite ich sie bedürfnisorientiert. Ich stehe vollkommen hinter diesem Erziehungsstil. Doch immer öfter frage ich mich, wo meine Bedürfnisse als Eltern bleiben. Wie gelingt mir der Spagat zwischen meinen Bedürfnissen und denen der Kinder?“ O- Ton eines Elternteils.
Sicher geht es einigen Eltern so. Sie wollen ihren Kindern das Beste mit ins Leben geben und haben dabei das Gefühl, keinen Raum mehr für sich selbst zu haben. Dabei ist die Selbstfürsorge der Eltern wichtig, für sich selbst, genauso wie für die Kinder. In diesem Beitrag will ich darauf eingehen, wie Eltern den Bedürfnissen ihres Kindes gerecht werden können, ohne die eigenen zu verleugnen. Das richtige Maß zu finden, bedeutet manchmal nur, den Blickwinkel zu verändern.
Die Haltung zählt
Gleichgültig was wir Kindern mit ins Leben geben wollen. Die innere Haltung der begleitenden Erwachsenen spielt eine entscheidende Rolle. Bei dem bedürfnisorientierten Umgang werden die Kinder als genauso gleichwertig und wertvoll angesehen wie die Erwachsenen. Die Bedürfnisse aller Familienmitglieder werden wahr- und ernstgenommen und es wird einfühlsam darauf eingegangen. Nicht jedes Bedürfnis erfordert in jedem Alter eine Erfüllung. Vielmehr ist entscheidend, wie die Bezugspersonen mit den wahrgenommenen Bedürfnissen umgehen. In einem bedürfnisorientierten Miteinander erfahren Kinder, das sie gesehen und ernstgenommen werden.
Bei der Geburt – Abschied von den eigenen Bedürfnissen?
Hilflos wird der Säugling in diese ihm fremde Welt geboren. Er ist darauf angewiesen, dass seine Eltern / Bezugspersonen für ihn sorgen, seine Bedürfnisse erfüllen. Ohne die Fürsorge, der sie umgebenden Menschen überleben Babys nicht. Sie wissen noch nicht, das Personen, die sich außerhalb ihrer Wahrnehmung befinden, anwesend sein können und haben noch kein Zeitempfinden entwickelt. Daher benötigen Säuglinge eine zeitnahe Reaktion auf ihre Bedürfnisse, um Vertrauen und Sicherheit in ihre Umwelt aufzubauen.
Durch Schreien, die Mimik und/ oder eine angespannte Körperhaltung teilen Säuglinge uns ihre Bedürfnisse mit. Säuglinge genau wie später die Kinder weinen oder schreien nicht, um uns zu ärgern, sondern weil sie gerade mit einer Situation überfordert sind und Unterstützung / Hilfe benötigen. Sie brauchen die Gewissheit, dass sie sicher und geborgen sind.
Die Aufgabe seiner Bezugspersonen ist es, diese Signale wahr- und ernst zu nehmen. Doch ist es nicht immer einfach, die Signale richtig zu deuten oder die Bedürfnisse sofort zu befriedigen. Wie können Eltern ihren Kindern trotzdem gerecht werden?
Kind und Eltern benötigen Zeit, um sich kennenzulernen
Genauso wie das Kind Zeit benötigt, um diese Welt, seine Familie kennen zu lernen, benötigen auch die Eltern Zeit, ihr Kind und ihre neue Rolle als Eltern kennen zu lernen und den Weg zu finden, der zu ihnen passt.
Bei der Geburt eines Kindes bekommen Eltern keine Gebrauchsanweisung mit, wie sie sich in bestimmten Situationen verhalten sollen. Das wäre auch schwierig, da jede Familie und jedes Kind einzigartig sind und unterschiedliche Lebensaufgaben mitbringen. Trotzdem gibt es Verhaltensweisen und innere Einstellungen, die der Entwicklung des Kindes förderlich sind. Dazu gehört eine bedürfnisorientierte Beziehung, die eine gute Balance zwischen den Bedürfnissen aller Familienangehörigen findet.
Gerade in den ersten Lebensjahren sind die Kinder abhängig davon, dass die Bezugspersonen ihre Bedürfnisse erfüllen. Da sie noch kein Zeitgefühl haben, ist es in den ersten Monaten erforderlich, dass die Bedürfnisse des Kindes Vorrang haben und zeitnah erfüllt werden.
Die Bedürfnisse der Eltern in den ersten Lebensmonaten
Doch mit der Geburt eines Kindes geben Eltern nicht automatisch ihre Bedürfnisse ab. Hier kann es hilfreich sein, sich gegenseitig als Eltern zu unterstützen /abzuwechseln und / oder Großeltern oder Freunde miteinzubeziehen.
Außerdem gibt es immer wieder Situationen, wo Eltern / Bezugspersonen die Bedürfnisse des Kindes nicht erkennen oder nicht sofort erfüllen können. In diesen Augenblicken sollten die Eltern ruhig mit dem Kind reden und ihm das erklären.
Wie gelingt dies im Alltag?
Bsp.: Das Kind weint, der Vater hat ihm bereits das Fläschchen gegeben, gewickelt und ist ratlos, welches Bedürfnis das Kind hat. Ruhig spricht er mit ihm: „Ich weiß gerade nicht, was du brauchst. Ich bin bei dir und gemeinsam werden wir eine Lösung finden.“
Bsp.: Der Säugling liegt im Laufstall auf einer Decke und betrachtet hingebungsvoll die Schatten an der Wand. Nachdem die Mutter sich vergewissert hat, dass es keine Gefahren für den Säugling gibt, nutzt sie die Zeit für eine schnelle Dusche. Gerade als sie sich eingeseift hat, hört sie ihr Baby weinen. Möglicherweise hat es gerade gemerkt, das es alleine ist oder ihm ist langweilig. Es beginnt zu schimpfen, dann zu schreien.
Es möchte sich vergewissern, dass es nicht alleine ist.
Wenn wir uns jetzt ins Bewusstsein rufen, dass der Säugling alleine nicht überleben kann und dies auch spürt, wird klar, dass sein Rufen, sein Schreien existenziell ist. Er benötigt eine zeitnahe Reaktion.
Da die Mutter nicht eingeseift aus der Dusche kann, ruft sie ihm mit ruhigen Worten zu: „Ich höre dich. Ich bin unter der Dusche. ich beeil mich.“ Sollte die Mutter ihn erst nach dem Duschen hören, geht sie zu ihm, tröstet ihn und erklärt ihm, wieso sie nicht da war.
Bsp: Ein Elternteil zieht dem älteren Kind die Jacke aus, der Säugling schreit, weil er müde oder hungrig ist. Das Elternteil spricht ruhig mit dem Säugling. „Ich helfe deiner Schwester noch die Jacke ausziehen, dann komme ich zu dir.“
Auch wenn der Säugling vielleicht noch nicht die einzelnen Worte versteht, nimmt er doch wahr, dass auf seine Unwohlsein reagiert wurde. Wenn die Eltern ruhig sprechen, signalisieren sie ihm gleichzeitig, dass alles in Ordnung ist. Wenn zeitnah auf seine Bedürfnisse eingegangen wird, erlangt der Säugling Sicherheit und Vertrauen in seine Umgebung und die Menschen um ihn herum.
Eltern sind die Fürsprecher des Kindes in jedem Alter
Neben den Bedürfnissen, die der Säugling / das Kind durch Schreien äußert, gibt es noch die stillen Bedürfnisse. Denn das Kind hat genauso das Bedürfnis nach Ruhe, Akzeptanz und eigener Entwicklung. Hier sind die Eltern die Fürsprecher für ihre Kinder.
Ruhe:
Das Kind benötigt Zeiten der Ruhe, in denen es die gemachten Erfahrungen verarbeiten kann. Genauso benötigt es Zeiten in denen es ohne Unterbrechung seine Umgebung und sich selbst erkunden kann. Auch wenn es anfangs still liegt, nimmt es seine Umgebung und sich selbst wahr. Erstes Erforschen seiner Hände, die es vor seinem Gesicht dreht. Eltern sollten ihr Baby nur unterbrechen, wenn dieses durch sein Verhalten anzeigt, dass es Unterstützung benötigt. Wenn der Säugling und später das Kind sich ganz seinem Lernen hingeben kann, stärken die Eltern seine Konzentrationsfähigkeit und sein Durchhaltevermögen. Das Kindergarten– bzw Schulkind braucht ebenfalls das Spiel, um Erlebnisse zu verarbeiten und einzuüben.
Eigene Entwicklung:
Kinder sind noch mit ihrem eigenen inneren Entwicklungsplan verbunden. Ihre Entwicklung läuft nach einem vorgegebenem Muster. Die Aufgabe der Eltern ist es, den Kindern eine Umgebung zu schaffen, in der sie sich gut entwickeln können. Kinder sollten nicht in Positionen gebracht werden, die sie nicht selbst einnehmen können.
Wenn wir ein Kind alleine hinsetzen, ohne dass es von uns gehalten wird, spannt es seinen Körper an. Es fühlt sich unsicher. Alleine kann es sich nicht aus dieser Situation lösen, sondern ist auf die Hilfe der Erwachsenen angewiesen. Bevor sich das Kind alleine hinsetzt, übt es viele einzelne Bewegungsmuster ein. Zufrieden sieht das Kind aus, wenn es dies von alleine geschafft hat. Entspannt ist sein Körper. Das Vertrauen in sich selbst und den eigenen Körper wächst. Wieder ein Meilenstein, den es aus eigener Kraft gemeistert hat.
Für Eltern ist dieses Abwarten oft schwer, da die Kinder etwas bereits möchten, es jedoch noch nicht können. Es jammert und weint.
Die Eltern können ihm sein Bedürfnis ruhig spiegeln und ihm erklären: „Du möchtest dich hinsetzen und mehr von der Welt sehen. Bald wirst du es schaffen. Ich traue dir zu, dass du es aus eigener Kraft schaffst.“ Wenn das Kind weiter schimpft oder schreit, kann ihm eine Alternative angeboten werden. „Wenn du magst, kannst du von meinem Schoß auf die Welt blicken.“ Dann streckt man ihm die Arme entgegen und nimmt ihn hoch, wenn er ebenfalls seine Arme ausstreckt.
Akzeptanz:
Jeder Mensch und vor allem Kinder haben das Bedürfnis angenommen, akzeptiert und geliebt zu werden, so wie sie sind. Jeder Mensch ist einzigartig. Es gibt Kinder, die durch ausprobieren lernen, ohne groß darüber nachzudenken und Kinder, die beobachten und erst, wenn sie sich einer Sache sicher sind, aktiv werden. Vergleichen mit anderen zeigen dem Kind, du bist falsch, du genügst uns nicht. Indem wir dem Kind seine Bedürfnisse spiegeln und sein Verhalten mit Worten begleiten, zeigen wir ihm unser Interesse.
Bsp.: Das Kind hat sich aus eigener Kraft hochgezogen und steht am Tisch. Wir begleiten ihn mit Worten: „Jetzt hast du dich hochgezogen und kannst sehen was auf dem Tisch liegt.“
Was lernt der Säugling, das Kind, wenn wir ihn so begleiten?
- es erlangt Vertrauen in seine eigene Entwicklung, in seine inneren Impulse
- es spürt, dass seine Eltern es akzeptieren, wie es ist
- es spürt, das Vertrauen und Zutrauen der Eltern
- er erfährt, dass seine Bedürfnisse wahrgenommen werden, auch wenn sie nicht erfüllt werden
- dieses Verhalten stärkt seine innere Selbstdiziplin und sein Durchhaltevermögen
- es stärkt seine Frustrationstoleranz, wenn wir ihm etwas zutrauen und statt dessen Alternativen anbieten
- Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein, Selbstwirksamkeit, Selbstständigkeit erwächst u.a. daraus.
Meine Bedürfnisse, deine Bedürfnisse, welche haben Vorrang.
Kinder sind von ihren Eltern abhängig. Es liegt in der Verantwortung der Eltern die Bedürfnisse der Kinder wahr- und ernstzunehmen. Doch auch die Bedürfnisse der Eltern und ihre Erfüllung sind wichtig. Wenn Eltern lange Zeit ihre eigenen Bedürfnisse zur Seite schieben, kann dies dazu führen, dass die inneren Wohlfühlspeicher leer sind. Unzufriedenheit, Erschöpfung kann sich ausbreiten. Es besteht die Gefahr, dass sie andere für ihr Glück verantwortlich machen.
Bsp: „Ich erfülle dir doch jeden Wunsch und du willst immer mehr / bzw. lässt mich nicht mal 5 Minuten eine Tasse Tee trinken.“
Doch es ist nicht die Aufgabe des Kindes, dafür zu sorgen, dass wir unsere Bedürfnisse erfüllen. Wir alleine sind dafür verantwortlich, für uns zu sorgen. Wir alleine sind für unser Glück verantwortlich.
Wenn wir das Bedürfnis des Kindes und unser eigenes wahrnehmen, können wir abwägen, welches Bedürfnis gerade Vorrang hat.
Vom wichtigen Bedürfnis „gesehen werden“
Doch selbst wenn wir ein Bedürfnis gerade nicht erfüllen wollen oder können, ist es wichtig, dieses Bedürfnis anzuerkennen. Genau wie dem Säugling spiegeln wir auch dem Kind sein Bedürfnis und erklären ihm kurz, wieso wir es gerade nicht erfüllen. Wir können ihm Alternativen nennen.
Bsp.: Der Vater hat das Kind von der Kita abgeholt. Auf dem Nachhauseweg will er kurz im Geschäft einkaufen. Als er an der Kasse steht, beginnt das Kind zu quengeln, weil es Schokolade will. Der Vater spiegelt dem Kind kurz das Bedürfnis und bietet ihm eine Alternative an. „Du möchtest Schokolade. Ich habe das Gefühl, du hast Hunger. Möchtest du in das Brötchen beißen oder eine Scheibe Käse haben?“ (Vorausgesetzt der Vater hat beides in seinem Einkaufswagen 🙂
Trotzdem kann es sein, dass das Kind auf seinem Bedürfnis beharrt, wütend wird oder enttäuscht ist. Das darf es sein. Wichtig ist, dass die Eltern ruhig bleiben und ihm sein Gefühl kurz spiegeln. Durch das Spiegeln von Bedürfnissen und Gefühlen zeigen wir dem Kind, dass wir es sehen.
Auch bei uns selbst ist es wichtig, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, indem wir sie uns innerlich spiegeln. Erst dann können wir zwischen dem Bedürfnis des Kindes und unserem abwägen, welches Bedürfnis gerade Vorrang hat.
Selbst wenn wir unser eigenes Bedürfnis gerade nicht erfüllen können, zeigen wir unserem Innersten (ich nenne es mal die Seele) das wir es wahrgenommen haben. Und allein dieses Gefühl des Gesehen werdens, schafft innere Zufriedenheit.
Wie gehen Eltern damit um, wenn sie ihrem eigenen Bedürfnis den Vorrang geben?
Auch hier ist es wichtig, dem Kind sein Bedürfnis zu spiegeln und entweder eine Alternative anzubieten oder zu erklären, warum sie es nicht erfüllen.
Bsp.: Jeden Donnerstag geht die Mutter zum Sport. Das Kind weint, weil es von der Mutter ins Bett gebracht werden will. Die Mutter spiegelt ihm kurz das Bedürfnis. „Du möchtest von mir ins Bett gebracht werden. Heute bringt dich der Papa ins Bett. Morgen kann ich dich ins Bett bringen. Heute gehe ich zum Sport. Ich freue mich, meine Freundinnen zu sehen. Morgen früh sehen wir beide uns wieder. Da freue ich mich schon drauf.“
Bsp.: Die Mutter merkt, dass sie eine kurze Pause benötigt. Sie kocht sich eine Tasse Tee. Sofort ist das Kind an ihrer Seite, quengelt und will mit ihr spielen. Die Mutter zeigt auf die Tasse Tee und sagt: „Du möchtest mit mir spielen. Ich trinke die Tasse Tee, dann komme ich zu dir.“ Alternativ kann sie ihm ein Angebot machen, was es in dieser Zeit machen kann. „Du kannst schon mal Lego aufbauen oder ein Buch raussuchen, bis ich komme.“ Alternativ kann die Mutter dem älteren Kind eine Eieruhr oder Uhr mit Zeigern hinstellen und daran erklären, wann sie zum Kind kommt. Sobald die Zeit abgelaufen ist, geht die Mutter zu dem Kind und sagt ihm, dass sie jetzt Zeit hat. Das Kind erfährt so, die Verlässlichkeit der Mutter.
Wenn das Kind weiter quengelt, kann sie auf die Tasse Tee zeigen. Möglicherweise quengelt es weiter, auch weil es wissen will, ob die Mutter das Gesagte wirklich umsetzt, ob sie verlässlich ist. Die Mutter bleibt ruhig und trinkt ihre Tasse Tee.
Was lernen die Kinder, wenn Eltern ihre eigenen Bedürfnisse achten
- Sie lernen, dass andere Menschen auch Bedürfnisse haben. Dies stärkt die Einfühlsamkeit und das Verständnis für andere.
- Sie lernen Rücksicht zu nehmen.
- Sie lernen, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse wahrnehmen und umsetzen dürfen
- Es befreit Kinder, wenn sie wissen, dass ihre Eltern für sich sorgen können und sie nicht für ihr Glück verantwortlich sind.
- Sie bauen innere Disziplin auf, wenn sie warten können. Wichtig ist es, dass ihr Bedürfnis wahrgenommen und mit Worten gespiegelt wurde.
Weitere Eindrücke finden Sie auch in meinen Büchern. Romane, die die bedürfnisorientierte Begleitung in Form von einer Geschichte aufgreifen.
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